Les plaisirs et les jours, “Die Freuden und die Tage”, so titelte im Jahre 1896 das Erstlingswert eines Valentin Louis Georges Eugène Marcel Proust. Genau einhundert Jahre später adelte Jarle Klepp sein Studium der Literaturwissenschaften mit Erforschung von Werk und Leben des französischen Literaten und Sozialkritikers Proust. Der Protagonist des ersten Films “eg reiser alene” unseres letztwöchigen Aufenthalts in Norwegen sehnte sich ohne Wissen um seines Sehnens tiefen Ursprung. Gleichsam ließ er sich treiben in seiner intellektuellen Levitation. Mag Jarles Treiben im Leben gefußt haben auf seiner neidvollen Bewunderung des fraglos durch Leidenschaft und Intensität gezeichneten Lebens des von ihm hochverehrten Marcel Proust.
Bloße Beschäftigung mit der Wissenschaft der Literatur im Hörsaal wie im Studierzimmer sind schwerlich eines wilden Herzens Jagdgründe. Imaginiere mit Jarle zusammen nur kurz eine Momentaufnahme aus dem mit Inbrunst zelebrierten Lebensstolz eines Marcel Proust. Sieh diesen Februartag 1897. Durch die Frühjahrskühle schreitet Proust zum Duell. Flankiert von seinen Freunden „Säbel-Borda” (Gustave de Borda) und Jean Béraud begibt sich Proust zur Auflösung seines Disputs mit dem Kritiker Jean Lorrain. Hör das Kreuzen der Klinge. Nimm wahr das Schnaufen kraftvoll geführter Hiebe und Stöße. Würdige den Wert der Ehre. Fühle der Szene feierliche Erhabenheit. Herrgott, wo bittschön im Sein eines Studenten im norwegischen Bergen in den Neunzigern, wo bittschön in unser aller Sein peitscht des Dramas lauter Donnerschlag noch die Tristesse unserer Tage?
Mensch, so und noch famoser war unser Tag in Norwegen. Ein wissendes Lächeln zauberte sich in unsere Gesichter, als Jarles siebenjährige Tochter ihres Vaters Lotterleben auf Spur brachte. Währenddes haben wir die Norwegische Erbsensuppe im Höchstmaß genossen, einen durch ein zeitloses Gedicht geadelten Kuchen geradezu inhaliert und die Fiskekakers waren des abendlichen Glücks kulinarische Apfel-Meerettich-Hauptdarsteller. Du siehst es richtig, wir blieben auch im hohen Norden nicht hungrig und die Komödie rund um einen Pubertierenden mit Hippie-Vater aus dem Oslo der 1970er Jahre ließ uns ganz weit weg sein vom Hier und vom Jetzt. Mission gelungen!
Vom Gulag unserer Tage
“Odin den’ Ivana Denisoviča” (Übersetzt: “Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“) vermittelte mir damals als jugendlichen Leser eine Vorstellung vom Strafgefangenlager sowjetischer Couleur. In der Machart des russischen Realismus schildert das 1962 erschienene Büchlein ein unbarmherziges Repressionssystem, wie es des Menschen Kern offenlegt. Alexander Issajewitsch Solschenizyn erhielt hierfür Jahre später den Literaturnobelpreis. Gottlob ist unsere aktuelle Gegenwart im globalen wie im nationalen Lockdown nicht von gleichen Ausmaßen. Aber die Dinge werden schlechter und insofern werde allen freudvollen Enthusiasten meine tiefe Bewunderung zuteil. Schließlich gilt meiner Tage Sorge und Trauer dem Verlust von Freiheit, Menschlichkeit und lebenswerter Zukunft. Zweifellos dürstet es mich im Gulag unserer Tage nach Ablenkung.
Nur wenn unsere Lider schließen, sind wir sie zu sehen imstande, jene wunderbaren Orte eines Gestern. Orte ohne neupatriotische Hatz auf Systemkritiker, ohne Atemverhinderungsmasken, ohne Abstandsregeln, ohne häusliche Quarantäne, ohne Gefängnis für Quarantäneverweigerer, ohne den Zusammenbruch der Wirtschaft, ohne Massenarbeitslosigkeit, ohne digitalen Impfpass, ohne behördliche Repressionen, ohne Lügen aus dem Äther, ohne eifrige Zensoren und ohne dauerhafte Einsperrung wider besseren Wissens. Bald wird sie anderthalb Jahre währen, diese neue Dystopie. Wie es dazu kommen konnte, das untersucht fortgesetzt die Stiftung Corona Ausschuss.
Lässt also die bloße Erinnerung an einen bereisten Ort den Moment vergessen, dann findet der tiefe Sinn des Reisens seine Erfüllung. So wollen wir es auch heute halten, in dieser gedanklichen Reise von Land zu Land, von Woche auf Woche. Wir gestatten uns das Träumen, wir wählen Ort und Zeit, wir sind des Bühnenbildes Arrangeur.
Und jetzt Russland
Der riesig-große grüne Fleck damals auf dem Schulglobus deiner Kindheitstage, das ist Russland. Diese gewaltige zusammenhängende Landmasse vereint Menschen mindestens 190 verschiedene Ethnien. Zur chinesischen Grenze hin sehen Russen gern asiatisch aus, andernorts wieder europäisch und gen Nordpol sehen Yupik als westliche Eskimos nicht von ungefähr so aus wie ihre Brüder und Schwestern drüben in Alaska. Vor solcher Größe könnten keine paar Worte das Riesenreich trefflich beschreiben. Zu verschieden zeigt sich das Riesenreich vom Terrain her, zu differenziert schillern die Facetten seiner Kulturen und Lebenstempi.
Das Wissen über die Oktoberrevolution im Jahre 1917, über den darauf folgenden Bürgerkrieg, sowie über den zu der Zeit erstarkenden und bis in die 1990er Jahre reichenden Kommunismus gerät zweifellos zum Schlüssel ins Verständnis eines modernen Russlands und seiner Geschicke. Sollte bei dir tapferem Mitreisenden diesbezüglich noch eine Wissenslücke klaffen, dann lass dich trösten. Wir sind hier inmitten der Taiga im Örtchen Bakhtia angekommen und heute wollen wir Unwissen durch prima Ahnung ersetzen.
Für mich jedenfalls ist mein Russlandbild geprägt von der Lektüre aus Jungentagen. Die Ahnung von der Ethik wurde überhaupt erst gesetzt durch Fjodor Michailowitsch Dostojewskis “Schuld und Sühne” (1866). Mein erstes Gespür für die Nicht-so-Einfachheit menschlicher Beziehungsgeflechte vermittelte mir während der langen Schulferien eines Elf- oder Zwölfjährigen im Bosnien und Herzegowina der Achtzigerjahre Dostojewskis “Die Brüder Karamasow” (1880). Und nach den über 2000 Seiten von Leo Tolstois “Krieg und Frieden” (1867) schienen mir andere Romane zunächst irgendwie karikaturesk.
Mein Russland erwuchs aus den Beschreibungen eines mit Gelehrtenstimme sprechenden Welterklärers Peter Scholl-Latour. Mein Wissen um die Natur als Quelle aller russischen Poesie stützte Werner Herzog zum Beispiel mit seiner Doku „Happy People: A Year in the Taiga“ (2010). Vielleicht braucht es einfach solche filmischen Ausblicke, um den Städter mit dem Streben seines Herzens zur Natur zu versöhnen.
Kalte Suppe, loderndes Herz
Wie in den letzten Wochen findet unsere Heimkehr zur Suppe die entschlossenste Fortsetzung! Was habe ich an den zurückliegenden Stationen unserer filmisch-verfressenen Sause rund ums Erdrund die heißen Suppen gelobt. Was umtanzten meine von euch da draußen so ersehnt-gefürchteteten blumigen Umschreibungen doch die Hitze und das Dampfende unseres jeweiligen Suppenauftakts.
Lässt uns die Fremde frösteln, so will es eine uralte Weisheit des Yogatyps, dann heißt uns die heiße Suppe willkommen. So geschehen etwa mit dem Dal in Indien, ebenso mit einer famosen Apfelsuppe in Ungarn, auch schlürfend köstlich mit der in China genossenen Glasnudelsuppe und erst recht und vor allem mit der Minestrone als Königin aller Suppen in bella Italia. Ja, und jetzt, wie soll ich es sagen? Jetzt bleibt der Teller kalt. 🙂 Aber keine Sorge, schließlich ist die nach diesem Rezept zubereitete kalte Okroschka unseres Russlandtages allemal würdig. Versprochen!
Doktor Schiwago (OT: Doctor Zhivago), USA/GB/Italien 1965
Zu Beginn die Ouvertüre. Orchester kündet von der kommenden Stimmung. Minutenlang. Das ist jenseits heutiger Sehgewohnheiten. Aber drück hier nicht auf Fast Forward auf deiner Fernbedienung. Akzeptiere dieses Element, nimm es als Einstimmung auf einen der besten Filme deines Lebens. Begegne mit gleichem Wohlwollen der mehrminütigen Intermission zur Filmmitte hin. Nutze die Zeit fürs Praktischste und vielleicht auch für ein Gläschen Sekt.
Großes Kino mit einem überlebensgroßen Omar Sharif in der Rolle des jungen Arztes Jurij Schiwago. Wie schon drei Jahre zuvor in seinem weiteren Meisterwerk “Lawrence von Arabien” (1962) schuf David Lean mit seiner Regiearbeit einen Himmel für den hiernach unbestritten zum Filmgott aufgestiegenen Omar Sharif. Daran Anteil hat Sharifs Gesicht in jenem großen Moment auf dem Balkon, als wir nur in seinen Zügen die Greuel der Niederschlagung einer frühen Revolution sehen. Daran Anteil haben Augen wie Juwelen, wie sie Mal um Mal funkelnd der Geschehnisse allsehende Zeugen sind.
In der cinephilen Wahrnehmung von “Lawrence von Arabien” gerät es völlig unstrittig, dass in der legendären Szene rund um den Zwischenfall am Brunnen keineswegs ein Peter O’Toole unseres Gedächtnisses Anker bleibt. Einzig infrage kommt die von Omar Sharif so unvergesslich zum Leben erweckte Rolle des stolzen und in schwarz gehüllten Beduinen Sherif Ali Ibn El Kharisch. Wie er einer Fata Morgana gleich aus flirrender Wüstenhitze stolz und gefährlich auf seinem Kamel naht und mit einem Gewehrschuss zum Titanen des Hollywoodfilms wird. Zu einem Titanen des Films, wie es ihn wohl nimmermehr geben wird.
Die 197-minütige filmische Adaption von Boris Leonidowitsch Pasternaks “Doktor Zhivago” kennt keine Langeweile. Lass dich fesseln von der bildgewaltigen Poesie eines Meilensteins besten Kinos. Du allein bist dieses Werkes Resonanzfläche. Wie jedem denkbaren Rezipienten wird “Doktor Schiwago” auch vor dem Hintergrund deines Lebensalters, deiner Lebenserfahrung, deiner Überzeugungen und deiner Einstellung zur Liebe auch dir eine eigene Handlungsebene bescheren. Die immergleiche Projektion trifft auf ureigene Wahrnehmungen und Emotionen. Auf Emotionen, wie sie die vielschichtige und über Jahrzehnte reichende Handlung zuhauf zu bieten imstande ist.
Gewichte selbst den Schrecken, wenn revolutionärer Eifer das Individuum knechtet. Urteile nicht über des Herzens Imstandesein, zwei Frauen zu lieben. Und sieh die Schönheit, wie sie selbst den düstersten Momenten innewohnt. Jene Schönheit, wie sie sich jedem Individuum erschließt, wie sie keiner Verblendung und keiner Blindheit zum Opfer fallen könnte. Ja, es gibt sie, diese Szene: Die mehrtägige beschwerliche Zugfahrt in einem übervollen Güterwaggon voller Menschen mit ungewisser Zukunft. Die Notdurft aller Reisenden wird ab und an während der Fahrt in tiefste Minusgrade hinausgeschaufelt. Ausgerechnet aus den Augen eines von Klaus Kinski gespielten unbeugsamen Wahnsinnigen nehmen wir die Schönheit des Kosmos wahr. Wir sehen, wie ein hochbetagtes Paar unten auf dem Boden schwerlich gegen die Kälte und für den Schlaf kämpft, als er seinen Arm noch mehr über sie legt und sie noch näher zu ihm rückt. Ein kleiner Augenblick nur, in einem dreistündigen Koloss von Film, und doch sehen wir hier Yoga, die Einheit, den Sinn von allem. Wir leben Mitgefühl, wir bewundern das Göttliche, wir streben nach der höchsten Einheit.
Russischer Zupfkuchen
Ein Leinwandepos größter Schönheit und Genialität liegt nun hinter uns. Lang und inhaltsschwer wie das Leben. So wie sich alles Leben nach des Sonnenlichtes pflanzlichem Derivat Zucker sehnt, so sehr brauchen jetzt und sofort unsere von Revolution und unerfüllter Liebe aufgeriebenen Gemüter ein wenig Kuchenglück. Natürlich mit russischem Lokalkolorit und natürlich rein vegan. Drum labe dich wie wir an dem nach einem Rezept meiner liebreizenden Muse bereiteten russischen Zupfkuchen vegan à la gurunest. Und gestatte dir ein Lächeln. Ist gar nicht so schwer. Schließlich kommt bei derlei süßem Glück das Lächeln über dein Gesicht wie der frühe Sonnenstrahl über das Land.
So lecker gerät das rrrrrussische Küchlein. Ich bin ganz sicher, dass selbst ein stets verkniffen dreinblickender roter Antagonist Pavel Antipow aka General Strelnikow in seinem gepanzertem Bolschewikenzug nach nur einer Kuchengabel die Zarenfamilie höchstpersönlich zu begnadigen bereit wäre.
Red Sparrow, USA 2018
Nach geschichtsträchtigstem Filmgenuss folgt nun ein amerikanischer Actionfilm im russischen Kleidchen. Wollen wir versönlich auch mit cineastischem Fast Food sein. Nehmen wir der nicht allzu mageren Jennifer Lawrence die Rolle der Dominika Egorova als Primaballerina am Bolschoi-Theater gnädig ab. Stellen wir manche Fragen ob des Sinns der Handlung einfach nicht. Nimmt man komplexes Agentenschach als in-sich-Sinn-generierend wahr, ja mei, dann soll es so sein.
Trotzdem passt “Red Sparrow” zu unserem Tag. Er ist der filmische Gegenpol zum ersten Streifen, er hat jede Menge Action, sehr scharfe Klingen, entwaffnend unerotische Erotikszenen und ein Ende, wie ich es mir damals für Jean-Paul Belmondo in “Le Professionnel“ irgendwie gewünscht hätte. Der von Belmondo gemimte Agent sollte den rettenden Hubschrauber seinerzeit nämlich nicht erreichen.
Ich werde zeitlebens den Moment erinnern, an welchem ich als Neunjähriger im Kinosessel saß. Jugendschutz gab es damals noch nicht. Jedenfalls schreitet in dieser legendären Szene der Agent Josselin Beaumont gemessenen Schrittes zum startbereiten Helikopter. Der Heckenschütze blickt auf Belmondos Rücken, während er auf die Freigabe zum Todesschuss vom französischen Innenminister wartet. Dazu diese absolut unvergessliche Filmmusik von Ennio Morricone … Jedenfalls ist ein Film ohne Happy End für den kindlichen Zuseher kaum vermittelbar. Insofern kann “Red Sparrow” auch ohne Belmondo und ohne Morricone einen positiven Akzent setzen.
Boeuf Stroganoff mit Püree der Lieblingsknolle meiner Muse
Führ dich nicht in Versuchung und probier die eingelegten Salzgurken nicht so. Ganz ohne Schaudern passen die salzig-sauren Gurkenfreunde jedoch im kulinarischen Abschluss unseres Aufenthaltes hier in Russland. Dass man ein Bœuf Stroganoff auch ohne Rinderfilet und Sauerrahm hinbekommt, davon zeugt meiner Muse famos-fleischlos-glücklichmachendes Rezept Boeuf Stroganoff mit Kartoffelpüree vegan à la gurunest.
Bist du dieser verrückt-vegan-yogischen Website schon länger treu, dann stehen die Chancen gar nicht so schlecht, dass du im Herzen schon ein klein wenig bosnisch bist. Drum zöger nicht lang und backe auch dir geschwind das zum Bœuf Stroganoff wie zur jeder denkbaren Mahlzeit auf Erden passende ofenwarme Einfachbrot Bosnische Pogača vegan à la gurunest. Werde dir bester Appetit zuteil, du wohlmeinende Reisebegleitung am anderen Ende des Internets.
Nächster Halt unserer Weltreise: Mexiko
Wir genießen noch ein wenig das Ausklingen des Tages hier in der Wildnis jenes Landes, wie es sich vorbildlich eines Edward Snowden annahm und wie es eines Gérard Depardieu neue Heimat ist. Mein Kumpel Sergej hat ein gerahmtes Bild von Wladimir Wladimirowitsch Putin an der Wand und er sagte einmal zu mir, dieses große Land könne nur ein Mann von Putins Format zusammenhalten. Sei es drum.
Nächste Woche wollen wir mit unserem prima yogischen Flieger in Mexiko Rast machen. Prima landestypische aber vegane Speisen kosten. Und prima mexikanische Movies mit hohem Bleigehalt sehen. Das wird funny, schließlich ist das unseres Tuns Sinn! Wir freuen uns drauf, genauso freuen wir uns über deine abermalige Mitreise!
Schließen möchte ich mit der Vorwegnahme eines Filmzitats unseres zweiten Films in Mexiko. Es handelt sich hierbei um eine der zahlreichen Ausreden gegenüber “The Man” im staubigen El Fronteras nahe der US-Grenze:
“YOU CAN’T DRINK THAT. YOU’RE A GRINGO. YOU EVER HEAR OF MONTEZUMA’S REVENGE?”
The Man in „El Gringo“