Das Bosnien und Herzegowina meiner Kindheit in den Siebzigern war noch Teil der Sozialistisch Föderativen Republik Jugoslawien. Im Grunde genommen hatten die Bosniaken unter der Verwaltung durch serbisch besetzte Politik, Behörden und Gerichte nicht viel mehr als das Leben im Privaten. Und dieses wurde gelebt, gerade im ländlichen Kozarac mit seinen so besonderen Menschen.
Das Glück dort rührte nicht her vom Materiellen. Vielmehr erwuchs es aus Familiensinn, gelebter Nachbarschaft, Aufrichtigkeit und Bescheidenheit. Man besuchte sich, man interessierte sich füreinander, man half selbstlos und es wurde einem selbstlos geholfen. In der Kühle des Abends begab man sich gutgekleidet zum Flanieren in die Ortsmitte, zum Sehen und Gesehenwerden. Ließ es das knappe Geld zu, dann wurde Platz genommen in einem der vielen Lokale mit Livemusik.
Grillplatten, Salate, Pivo und Rakija hoben die Stimmung. Das immerwährende Klangbild aus Ziehharmonika, Synthesizer, Bassgitarre und Gesang ließ zuverlässig alle Sorgen weichen. Die unvermeidlichen Tränen kündeten vom Glück des Moments. Während auf der kleinen Bühne die abermillionste Variante unerfüllter Liebe besungen wurde, beweinten lachende Augen Momente der Freiheit.
Die Bosniaken jener Zeit waren nicht imstande, das politische System zu ändern, die Welt zu beeinflussen. Was sie stattdessen beeinflussen konnten, das war die sie unmittelbar umgebende Welt aus Familie, Nachbarschaft und Gemeinde. Sie schufen jene Art von Heimat, wie sie sein sollte, jene Art von menschlicher Herzlichkeit, wie sie unser aller Ideal sein sollte.
Ein neuer Wegpunkt
Dann plötzlich fand ich mich als Junge in einem so anderen Land wieder. In Deutschland waren wir auf einmal. Zu verdanken war das der neuen Verliebtheit meiner Mutter. Ausgerechnet ein Mann aus Njemačka ist es geworden. Da sprachen diese neuen und vom Verhalten her so anderen Menschen in einer merkwürdig hart klingenden Sprache zu mir. Später dann, nach dem Spracherwerb, lernte ich nach und nach die kulturellen Unterschiede. Bekamen bei bosnischen Feierlichkeiten die Kinder immer zuerst aufgetischt, so mußten hier die „Blagen“ warten. Wurde in Kozarac abends spontan jemand besucht, dann war da echte Freude und es wurden alle Hebel für gute Stunden der Gemeinschaft umgelegt. Im Land der immer-sauberen Straßen hingegen wurden Termine gemacht, es wurde vorbereitet, man zeigte sich von einer besonderen Seite und nicht immer war Herzlichkeit der Gastgeber.
Viel später sollte ich lernen, wie allein das Gewand der gedachten und gesprochenen Sprache unseren Geist zu kleiden imstande ist. Als Kind spürte ich nur die vielen merkwürdigen Empfindungen in der Phase des Übergangs vom bosnischen Denken und Sprechen hin zum Denken, Sprechen und Träumen in deutscher Sprache. Deutlich weniger Worte waren hier differenziert durch betonte und unbetonte Aussprache. Vor allem aber konnte ich damals noch nicht wissen, dass bereits der Wegfall der grammatikalischen Fälle Lokativ (der Ortsfall), Instrumental (der Fall von Zweck und Mittel) und des Vokativs (der Rufe-Fall) den Wandel des Denkens nicht ohne Stolpersteine geschehen ließen.
Letztlich ist die deutsche Sprache großartig, sie bleibt immerfort das Werkzeug bester Dichtung und Quell großartiger Wortschöpfung aus der Romantik. Aber des Herzens Federkiel mögen andere Sprachen zu führen geeigneter sein. Jene Sprache, welche alle Nuancen des Herzens und des Denkens zu artikulieren imstande ist, bleibt Sanskrit, die Sprache des Yoga. Unbestreitbar hat auch das Sanskrit den Yogaweg im Laufe seiner Jahrtausende zu formen gewusst. So mag es sein, dass ich aus dem beschriebenen Verlust heraus für all das besonders offen bin, was mit Yoga zu gewinnen ist.
Die nun folgende andere Erzählung hat meinen vor Jahrzehnten verstorbenen Großvater Aziz zum Mittelpunkt. Und letztlich die Sehnsucht unserer Herzen, wie sie schon immer unserer Wanderschaft Antrieb ist. Bereits häufiger habe ich diese Geschichte zum Besten gegeben, schließlich erzählt sie vom Apfel in voller Blüte, zu welchem es sich zurückzugehen lohnt.
Wanderschaft eines Herzens raus aus der Hölle
Meinen Großvater sah ich das letzte Mal mit knapp zwei Jahren. Kurz darauf starb er, dieser grauhaarige Mann mit seinen harten Zügen und mit den freundlichen Augen. Ich sehe ihn noch ganz deutlich vor mir. Ruhig, mal streng, mal albern, war Aziz in Kozarac ein hochrespektierter Mann. Der gleiche Aziz bastelte stets vor Sylvester im Hühnerschuppen an seinen Sylvesterknallern und einmal sollte es ihn einen Finger kosten. Jedenfalls nahm er seine Geschichte vom Zweiten Weltkrieg und dessen Ende mit ins Grab. Später, viel später sollte sie rekonstruiert werden aus dem Wenigen, dass er mal im Freundeskreis und in geselliger Trunkenheit erzählt hat. Und letztlich auch aus dem, was passend aus den Berichten von Zeitzeugen hinzugefügt werden konnte.
Aziz war zur Zeit des zweiten Weltkriegs eigentlich Zivilist in Bosnien und Herzegowina. Niemand wird je sagen können, wie er zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland sein konnte, in der Nähe von Nürnberg. Vermutlich wurde er zuvor irgendwo von der Wehrmacht aufgegriffen und als Zwangsarbeiter in das von der SS betriebene KZ Außenlager Hersbrück bei Nürnberg deportiert. Als dann im April des Jahres 1945 die 7. US-Armee das KZ-Außenlager in Hersbrück befreite, da war mein lieber Großvater Aziz einer der wenigen Überlebenden.
Die SS sah die Alliierten natürlich Wochen zuvor näher rücken. Als Konsequenz schickte die SS in Stößen viele Zwangsarbeiter zu Todesmärschen nach Dachau, in ihr Verderben. Der geschundene Aziz war am Tage der Befreiung durch die tapferen Amerikaner noch im Außenlager. Er hatte vor diesem Hintergrund einfach nur Glück. Als plötzlich freier Mann blickte Aziz auf eine zerstörte Welt, gleichsam auf eine Welt mit einer neuen Zukunft. Seine gesamte Umgebung bestand aus dem Chaos des Kriegsendes und der Bitterkeit. Für ihn gab es nur eine Sache und das ohne Überlegung. Er musste heimwärts wandern.
Unmittelbar nach seiner Befreiung durch die Amerikaner marschierte Aziz sofort los. Knappe 800 km durch Österreich, durch Slowenien, durch Kroatien, bis nach Kozarac in Bosnien Herzegowina. Ohne Habe, nur mit seinen alten Zwangsarbeiterklamotten am Leib. Überliefert ist jedenfalls, dass er auf seinem Marsch heimwärts von allen Menschen gut behandelt worden ist. Ihm wurde Essen geschenkt, ihm wurde Unterkunft zuteil. Und er hatte in diesen Zeiten der Not vor allem immer wieder alte Schuhpaare geschenkt bekommen. Und so schaffte er es nach Kozarac. Ihm wurde von Menschen gegeben, welche selbst nichts hatten. Diese Wanderung hat Aziz mit Sicherheit im schlechtesten körperlichen Zustand bewältigt. Und doch trug ihn die Kraft seiner Sehnsucht in die Heimat, nach Bosnien und Herzegowina. Sie trug seine Füße in anderer Leute altem Schuhwerk über die Alpen. Dergestalt ward ihm geholfen. Die tapfere US-Army schenkte ihm die Freiheit. Die Hilfsbereitschaft selbst darbender Menschen gab ihm den Glauben ans Menschliche zurück.
Nie war aus dem Munde meines Großvaters hasserfülltes Reden zu vernehmen, zeitlebens machte er keine Unterschiede ob der Herkunft oder der Gesinnung. Vor diesem Hintergrund werde ich daran erinnert, dass an das Menschliche stets zu glauben ist. Was auch immer passiert ist, was auch immer noch passieren mag.
Ti si mene ljula u krilu Bosno moja jabuko u cvetu Sto me pusti, sto me pusti Da lutam po svetu Du hast mich in deinem Schoß geschaukelt Bosnien mein Apfel in voller Blüte Was lässt mich gehen, was lässt mich gehen Um die Welt zu bereisen